Die versteckten Netzwerke des Lebendigen entdecken
Schwarzweiß-Foto (Negativ) Blick aus der Burg Hohensolms am 25. Januar 2015

(Johannes:)

"Der Mensch wird am Du zum Ich." - so der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber.

Ein Baum braucht Sonne, Wasser und Nahrung aus dem Boden, um leben und wachsen zu können.
Genauso brauchen wir für unsere Entwicklung und den Alltag die Verbindung zu anderen.
Darauf sind wir angewiesen.
Auf das Du.
Auf ein Netzwerk von Beziehungen.
Das ist unsere Nahrung, unsere Energiequelle:
"Der Mensch wird am Du zum Ich."
Ich wurde und werde geprägt durch Menschen:
Meine Eltern, Geschwister und Großeltern,
Lehrer:innen und Mitschüler:innen,
Menschen, die mir in Ausbildung und Beruf begegnet sind.
Durch meine Ehepartnerin, meine Söhne und Freundschaften.
Es gibt mich nicht losgelöst davon.
Sondern nur als Gesamtpaket, als mit vielen Dus vernetztes Ich.
Nur so kann ich leben - und werde ich gelebt.
Geprägt von Erfahrungen mit dem Du.
Mich gibt es nicht isoliert ohne die anderen.

(Von wegen "Jeder ist seines Glückes Schmied"!
Dieses verbreitete Glaubensbekenntnis stimmt nicht.
Mein Glück hängt nicht allein von mir ab.
Nicht von meiner Selbstoptimierung.
Nicht allein von meiner Anstrengung.
Sondern mein Glück ist vor allem: Geschenk.)

Ein "Du" ist auch die Schöpfung, die Natur.
Tiere und Pflanzen, Fauna und Flora.
Lebendig, voller Wunderwerke.
Im Großen und im Kleinen.
Vieles hat sich der Mensch abgeschaut für technische Lösungen.
Der Baum, der Wald: eine lebendige chemische Fabrik.
Wohltuend, beruhigend für die Psyche des Menschen, wenn er sich dort aufhält.
(Aus der wissenschaftlich belegten Erkenntnis wurde mit dem "Waldbaden" freilich gleich wieder ein Geschäftsmodell.)

Die ganze Erde ist der Garten Eden – ein Geschenk.
Alle Pflanzen und Tiere werden vom Schöpfer dem Menschen als "Du" vorgestellt in der Schöpfungsgeschichte, aus der wir vorhin einen Ausschnitt gehört haben.
Gott macht den Menschen zu einem Teil des Netzwerks des Lebendigen.

Ich lerne daraus:
Der Mensch steht nicht über der Natur.
Sie ist nicht sein Gegenüber.
Sie ist kein Materiallager oder Steinbruch,
aus dem er sich beliebig bedienen kann.
Sondern er ist eingebunden in ein Netzwerk von Leben aus Tieren und Pflanzen.
Das viel größer und versteckter ist, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen können.
Jeder Baum ein "Du", ein lebendiges Wesen.
Wenn der Wald stirbt, stirbt am Ende auch der Mensch.

Der Mensch als Teil der Schöpfung:
Das verändert den materialistischen Blickwinkel auf die Welt zu einer Einstellung, wie sie der Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer in Worte gefasst hat:
"Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will."
"Ehrfurcht vor dem Leben"! – dazu hat er aufgefordert.
Ehrfurcht vor dem Du – ob es Menschen, Tiere oder Pflanzen sind.
Und weil er Theologe war:
Ehrfurcht vor dem Du hinter allen Dus,
vor dem Zusammenspiel alles Lebendigen.

"Ehrfurcht vor dem Leben" wächst, wo wir genau hinsehen.
Wo wir immer wieder neu staunen.
Und deshalb motiviert sind, voller Achtung dieses Leben um uns herum – und damit uns selbst – zu bewahren.

Schwarzweiß-Foto (Negativ) Blick aus der Burg Hohensolms am 25. Januar 2015

(Beate:)

"Die verborgenen Netzwerke des Lebens zu entdecken"…
- und zu staunen,
dazu haben wir heute hierher eingeladen,
in den Schatten der Eichen am Rand des Teiches.
"10 Impulse zum Staunen" haben wir für euch ausgesucht,
einige haben wir gerade genannt.
Mich persönlich hat besonders beeindruckt,
was ich über die Rolle der Pilze und ihres unsichtbaren Netzwerkes erfahren habe.
So viele Zusammenhänge sind noch unerforscht,
das feine Zusammenspiel der Organismen ist in Teilen noch rätselhaft.

Staunen über das, was Wissenschaftler*innen
herausgefunden haben,
ist das eine –
selbst auf Entdeckungsreise zu gehen
mit offenen Sinnen,
still zu sein,
zu lauschen,
sich zu bücken,
genau hinzusehen,
zu riechen,
zu spüren,
den Kopf in den Nacken zu legen
und zu den Baumkronen hinauf zu sehen -
das ist das andere – vielleicht noch viel wichtigere!

Staunen:
über das Kleine, Feine,
wie über das Große, Erhabene…
drückt sich oft in Poesie aus,
spiegelt sich in Gemälden und Fotos.

Das Staunen – und die Ehrfurcht vor dem Lebendigen, die daraus erwächst,
das muss uns doch dazu veranlassen, die wunderbaren Netzwerke des Lebendigen zu bewahren!

Anjas Gedicht "Bewahren" ist im Dannenröder Wald entstanden
kurz bevor sich Motorsägen durch den Wald fraßen und die gesunden alten Bäume einer breiten Schneise für den Autobahnbau weichen mussten,
als der Waldboden unter Tonnen von Schotter begraben wurde.

Bewahren! Davon spricht auch die Schöpfungserzählung aus dem 1. Testament.
Was Gott uns als Lebensgrundlage anvertraut,
das dürfen wir bebauen, gestalten und nutzen – aber behutsam, mit Sinn und Verstand!
"Gott setzte den Menschen in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte."
Inmitten einer lebensfeindlichen Wüste liegt dieser Garten.
Wenn der Mensch ihn nicht bewahrt, wird er sich in der Wüste wiederfinden.

Lange – viel zu lange! - haben wir nur das gehört:
den Auftrag zum Bebauen – und haben so viel schon zerstört.
Lebensräume und Arten: unwiederbringlich dahin, viele gefährdet.

Es sind vielfach junge Menschen, die sich der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen unerschrocken und sehr unerbittlich entgegen stellen.
Ich denke an den Hambacher -, den Dannenröder Wald, den Riederwald.
Und auch all die – z.T. nicht mehr ganz so jungen, aber jung gebliebenen - Menschen,
die sich in Naturschutzgruppen engagieren:
die Nistkästen aufhängen, Biotope schaffen und pflegen, Kinder an die wunderbaren Zusammenhänge in der Natur heranführen –
sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung.
Wenn mir heute etwas Hoffnung gibt, dann sind es diese Menschen,
die sich kenntnisreich und mit viel Phantasie der Zerstörung widersetzen und nicht nachlassen.

Bebauen und bewahren -
bei letzterem muss heute der Akzent liegen!

Daraus ergeben sich ganz konkrete Anfragen:
- an die Art und Weise, wie unsere Wälder bewirtschaftet werden...
- daran, wie wir mit dem Wasser umgehen, dieser kostbaren Ressource…
- und wie wir unsere Böden behandeln – viel zu wenig Aufmerksamkeit haben wir dem Bodenschutz bisher geschenkt!

Wir leben vom Wald
von dem, was er uns schenkt – wenn wir ihn lassen:
Luft zum Atmen
Wasser
Erholung und Heilung…

Wir leben vom Wald, vom Wasser, von der Erde
weil wir (Menschen)
hinein verwoben sind in
das große, wunderbare Netzwerk des Lebendigen.

Segensgebet

Schöpfer, DU hinter allen Dus,
Weberin aller Netzwerke des Lebendigen,
segne uns und unsere Wälder!

Segne unser Forschen und Wissen,
unsere Sensibilität und unsere Kraft,
unser Staunen und unsere Poesie
unseren Einsatz für alles Lebendige!

Segne unsere Wälder
und alle, die sie bestaunen, beschützen und bewahren!

Amen.

(1)
Der älteste Baum in unserem Umkreis ist die Meßfelder Eiche mit annähernd 400 Jahren (vor 400 Jahren: 30jähriger Krieg) – Im Wirtschaftswald wird eine Eiche nur ca. 150 Jahre alt.

(2)
Eine 150 Jahre alte Buche produziert fortlaufend genug Sauerstoff für 10 Erwachsene.

(3)
Im Idealfall leben im Wald ca. 20.000 Tierarten. Davon finden etwa 20% Nahrung und Lebensraum im Totholz.

(4)
In einer Hand voll Walderde leben ca. 10 Milliarden Mikroorganismen und Kleinstlebewesen (mehr als Menschen auf der Erde).

(5)
1 Teelöffel Walderde enthält über 1 km Pilzfäden. Wälder können sich nur durch das Zusammenspiel von unterirdischem Pilzgeflecht ("Mycel") und Bäumen entwickeln. Ein erwachsener Baum versorgt seinen "Nachwuchs" über das Pilzmycel mit Nährstoffen.

(6)
Pflanzen können ohne uns Menschen leben, Menschen nicht ohne Pflanzen. Die Fotosynthese ist der wichtigste Stoffwechsel-Prozess in der Natur, Grundlage allen Lebens. Der lebenswichtige Sauerstoff kommt nur von den Pflanzen.

Waldandacht von Beate und Johannes Fritzsche,
gehalten in Nonnenroth am 14. Mai 2023
anlässlich des 50jährigen Bestehens des NABU Nonnenroth